Das Gesundheitswesen steht unter starker Kritik, da die Ausgaben für die Gesundheit weiter steigen, während die Einnahmen rückläufig sind. Diese finanzielle Dysbalance fordert Handlungsbedarf im solidarischen Gesundheitssystem.
Im folgenden Abschnitt werden der demographische Wandel sowie der medizinisch-technische Fortschritt als Ursachen für die Nachfragesteigerung benannt. Beide Aspekte werden erläutert und deren Auswirkungen auf das Gesundheitswesen geschildert. Anschließend wird die Kostenentwicklung der Gesundheitsausgaben in Deutschland untersucht.
In folgenden Ausbildungen gehen wir tiefer darauf ein:
Der demographische Wandel bezeichnet die Veränderung der Bevölkerungszahl, Geburten, Lebenserwartung und Altersstruktur (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2015, S. 2) in einer Gesellschaft.
In Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Abwärtstrend des Bevölkerungsstandes zu erkennen. Laut dem statistischen Bundesamt werde der Bevölkerungstand von 81,3 Millionen Menschen (Stand 31.03.2015. Ermittelt durch Zensus 2011, vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland, 2015a) im Jahr 2015 bis 2060 auf 67,6 Millionen (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland, 2015b) sinken.
Der bedeutendste Grund für die abnehmende Bevölkerungszahl ist die sinkende Geburtenrate.
Abbildung 1: Geburten im Zeitverlauf, Statistisches Bundesamt Deutschland (2012)
Wie in der Abbildung 1 zu sehen ist, stieg die Anzahl der Geburten in der Nachkriegszeit stetig an (diese Generation wird als Baby-Boom Generation bezeichnet), bevor sie zu Beginn der 1960er Jahre langsam abnahm. Von den 1970er Jahren bis zu der Jahrtausendwende ist die Anzahl an Geburten annähernd gleich geblieben. Seit 2000 ist ein weiterer Abwärtstrend zu erkennen. Im Jahr 2014 wurden lediglich 715.000 Geburten verzeichnet (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland, 2015c).
Abbildung 2: Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland, Statistisches Bundesamt Deutschland (2009, S. 14)
Anhand dieser Abbildung 2 ist ersichtlich, wie sich in den letzten 106 Jahren die Altersstruktur in Deutschland verändert hat. Es ist eine Änderung der Pyramidenform hin zur Form einer Pappel zu erkennen. Das Fundament der Pyramidenform wird dabei durch eine hohe Zahl an Neugeborenen gekennzeichnet. Die Anzahl der Einwohner nimmt dabei im zeitlichen Verlauf immer weiter ab. Durch diese natürliche Gegebenheit entsteht die Form der Pyramide. Im zeitlichen Verlauf ist nun die Pappelform entstanden. Diese ist dadurch zu erkennen, dass es vergleichsweise mehr Bewohner im höheren Alter gibt, als Neugeborene bzw. junge Menschen. Dies verdeutlicht, wie sich die Altersstruktur, sowie die Anzahl von Personen in einem bestimmten Lebensalter, über die Zeit verändert hat bzw. zukünftig verändern wird.
Durch diese Entwicklung entstehen weitreichende Auswirkungen für die Gesellschaft und somit für das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem. Dieses ist so aufgebaut, dass jeder Versicherungsnehmer durch seine Versicherungsprämie die entstehenden Krankheitskosten der Gesellschaft finanziert. Jedoch wird das Verfahren durch die steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, bedingt durch die älter werdende Bevölkerung und die nicht proportional wachsende Steigerung der Einnahmen, vor große Herausforderungen gestellt. Die Einnahmen wachsen nicht gleichermaßen mit den Ausgaben, da durch den demographischen Wandel die Anzahl der Neugeborenen im Verhältnis zu Personen über 70 Jahre geringer ist. Die Steigerung der Nachfrage wird dadurch begünstigt, dass die Anzahl an Erkrankungen einer Person mit seinem Alter korreliert (vgl. Bräuninger et al., 2007, S. 9). Das bedeutet, je älter ein Mensch wird, desto multimorbider ist dieser (vgl. Marckmann, 2007, S. 100), und desto mehr Gesundheitsleistungen werden in Anspruch genommen bzw. desto höher sind die Gesundheitsausgaben (vgl. Oduncu, 2012, S. 360). Es wird dabei davon ausgegangen, dass junge Menschen in der Regel gesünder sind als ältere Menschen. Bedingt durch den demografischen Wandel funktioniert das System der Kostenverteilung nur einseitig. Von der jungen Generation kann nicht ausreichend eingezahlt werden, um die Kosten der steigenden Inanspruchnahme von Leistungen zu decken. Dieser Umstand wird zusätzlich durch die steigende Lebenserwartung beeinflusst. Das Verhältnis der Anzahl an Erwerbstätigen nimmt, im Vergleich zu der Anzahl an nicht mehr Erwerbstätigen, stetig ab. Es führt dazu, dass weniger Berufstätige für die Sozialleistungen von mehr werdenden und länger lebenden Pensionären aufkommen müssen. Dadurch verschiebt sich das Finanzierungsgefälle zu Ungunsten der Gesellschaft. (vgl. Horn, Schuchardt, 2015, S. 13)
Diese demographischen Entwicklungen stellen das deutsche Gesundheitssystem vor eine große Herausforderung. Es sei abzusehen, dass Gesundheitsleistungen, im Rahmen des Solidaritätsprinzips, nicht mehr dauerhaft uneingeschränkt finanziert werden können (vgl. Duttge, 2009, S. 139). Aus diesem Grund ist es angeraten einen Weg zu finden, Leistungen effektiv und maßvoll einzusetzen, ohne Lebensnotwendiges vorzuenthalten und eine Gleichbehandlung zwischen sozialen Schichten zu gewährleisten.
Warum der medizinisch-technische Fortschritt mit zu den Hauptgründen zählt, dass die Ausgabenseite immer weiter steigt, soll im Folgenden erläutert werden.
Die Weiterentwicklung der Medizin und ihrer Leistungsfähigkeit stellt sich als ein hochlukratives Geschäft dar. Durch die immer besser werdende Versorgungsqualität und der damit einhergehenden Erhöhung der Lebenserwartung werde der medizinisch-technische Fortschritt gesellschaftlich eingefordert (vgl. Arentz, 2011, S. 1). Jedoch steht dieser Fortschritt im Spannungsfeld der Politik. Einerseits sei die hochwirksame Versorgung gewünscht, andererseits müsse die Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens gewährleistet werden können. (vgl. Bratan, Wydra, 2013, S. 5) Die Entwicklung und Inanspruchnahme neuer Versorgungsmöglichkeiten kostet viel Geld (vgl. Schmidt-Wilke, 2004, S. 63).
Der medizinisch-technische Fortschritt besteht vor allem aus Produkt- und Prozessinnovationen. Produktinnovationen zielen auf die Verbesserung bereits bestehender Produkte ab, Prozessinnovationen auf die Verbesserung der Herstellung dieser Produkte. Während Produktinnovationen kostensteigernd wirken, führen Prozessinnovationen zur Kostensenkung. Im Gesundheitswesen kommen Produktinnovationen häufiger vor, allerdings ist ihr Nutzen häufig fragwürdig und muss erst nachgewiesen werden. (vgl. Schmidt-Wilke, 2004, S. 64 f.)
Ein weiteres Problem bei der steigenden Behandlungsqualität und dem erhöhten Forschungsstand ist die Erweiterung der Indikationsfelder. „Je mehr die Medizin sich anstrengt, desto kränker werden wir. Die moderne Medizin sitzt in der großen Fortschrittsfalle fest“ (Jachertz, Rieser, 2007, S. 22). Die Verbesserung der Versorgungsqualität sorgt dafür, dass immer mehr Behandlungsmöglichkeiten angeboten werden können (vgl. Carlson, 2014, S. 1). Krankheiten, für die es bisher keine Therapie gab, können nun behandelt werden. Dies ist gut, da die Gesundheit eines größeren Bevölkerungsteils erhalten und wiederhergestellt werden kann. Bedingt durch wachsende Indikationsfelder und der damit steigenden Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, steigen die Ausgaben im Gesundheitswesen. Zudem fordert die Medizin und Gesellschaft neue Behandlungsmöglichkeiten, da die Gesundheit ein besonderes Gut ist und erhalten bleiben soll.
„Die Grenzen des medizinischen Fortschritts sind sicherlich noch nicht erreicht, die Grenzen der wirtschaftlichen Belastbarkeit des Gesundheitssystems hingegen bald“ (Boldt, Schöllhorn, 2008, S. 997). Diese Aussage verdeutlicht den Bedarf einer Neustrukturierung der Ausgabenseite des Gesundheitssystems. Eine Möglichkeit um die Gesundheitsleistungen zielgerichtet einzusetzen sind Nutzenbewertungen die klare Richtlinien formulieren. Anhand dessen können Indikationen bestimmt werden die zur Verordnung führen.
In Deutschland bewertet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen den Nutzen von neuen Behandlungsalternativen. Diese evidenzbasierte Untersuchung der Vor- und Nachteile von Maßnahmen führt zu einer wissenschaftlichen Einschätzung der Wirksamkeit und Effektivität (vgl. Marckmann, 2010b, S. 14). Anhand dessen lassen sich Richtlinien und Versorgungskonzepte erstellen, welche die Versorgungsqualität erhöhen und dabei ein ausgeglichenes Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen.